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Presseerklärung: Abschiebung von Jesid*innen in den Irak stoppen

Bielefeld, 18.12.2023

An die Bielefelder Öffentlichkeit, die Presse, den Oberbürgermeister der Stadt Bielefeld und alle demokratischen Parteien


Noch im Januar 2023 hat der Deutsche Bundestag die systematische Verfolgung und Ermordung der Jesid*innen im Nordirak seit 2014 durch die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) als Völkermord eingestuft. Mit dieser Entscheidung hat sich der Bundestag einstimmig an die Seite der Jesid*innen gestellt und ihr Leid sowie ihre Schutzbedürftigkeit anerkannt. Die Entscheidung vom 19. Januar 2023 war nicht nur politisch wichtig, sondern auch darüber hinaus bedeutsam. Sie heilte Wunden innerhalb der jesidischen Gemeinschaft und vermittelte den Schutzsuchenden ein Gefühl von Sicherheit, Geborgenheit und Anerkennung.


Dass seit einigen Wochen vermehrt schutzsuchende Jesid*innen systematisch aus Deutschland, auch aus Bielefeld, in den Irak abgeschoben werden, ist erschreckend, zumal es sich um Völkermordüberlebende handelt, die in ein Land abgeschoben werden sollen, in dem Islamismus und korrupte Politik tagtäglich ihre Existenz bedrohen.


Zur Erinnerung: Am 3. August 2014 überfiel die Terrormiliz IS das jesidische Siedlungsgebiet Şengal und verübte einen Völkermord und Femizid an den Jesid*innen. Der sog. IS ermordete über 10.000 Menschen und mehr als 400.000 Menschen wurden vertrieben. Über 5.000 Frauen und Mädchen wurden versklavt, von rund 2.700 Frauen und Mädchen fehlt bis heute jede Spur. Seit 2014 haben zehntausende schwer traumatisierte Jesid*innen in Deutschland Zuflucht gefunden und sich eine neue Existenz aufgebaut. Trotzdem begann im Mai 2023 die systematische Abschiebung von Jesid*innen in den Irak. Derzeit gibt es keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Jesdi*innen aus Deutschland abgeschoben wurden. Laut Schätzungen der Organisation “Pro Asyl” sind derzeit 5.000 bis 10.000 Jesid*innen aus dem Irak ausreisepflichtig und von Abschiebungen bedroht.


In Deutschland lebt die größte jesidische Diaspora Europas mit etwa 250.000 Angehörigen. Sie ist Teil unserer Gesellschaft. Diese Menschen haben sich inzwischen nicht nur mit hiesigen Werten und Einstellungen arrangiert, sondern sich auch wirtschaftlich eine Existenz aufgebaut – wie das Beispiel des aus Bielefeld stammenden Ehepaares zeigt, das nun abgeschoben werden soll. Seit Wochen warnen jesidische Vereine und Organisationen in Deutschland vor der drohenden Gefahr für jesidische Schutzbedürftige, die mit einer Abschiebung konfrontiert sind. Sie haben offene Briefe an Politiker*innen geschrieben, Hungerstreiks durchgeführt und verschiedene Protestformen genutzt, um auf ihre Belange aufmerksam zu machen. Die Organisationen fordern einen sofortigen Stopp der Abschiebungen von Jesid*innen in den Irak.


Die Abschiebung und Abschiebehaft von schutzsuchenden Jesid*innen ist aus mehreren Gründen skandalös und moralisch nicht vertretbar. Abschiebungen von Menschen mit traumatischer Lebens- und Fluchtgeschichte reaktivieren alte Traumata und sind auch integrationspolitisch eine fatale Entscheidung. Überlebende des Völkermords von 2014, die in der Diaspora begonnen haben, ihre Traumata aufzuarbeiten, werden gegen ihren Willen an den Ort zurückgeschickt, aus dem sie geflohen sind. Bei einer Rückkehr droht vielen Jesid*innen die faktische Fortsetzung des Völkermords, da sie allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dieser Religionsgemeinschaft in hohem Maße von Verfolgung bedroht sind.
Die allgemeine Lage im Irak ist nach wie vor sehr unsicher, gerade auch durch die regelmäßigen Luftangriffe der Türkei und Anschläge durch IS-Schläferzellen. Bei unseren regelmäßigen Reisen in die Region sowie durch die Presse erfahren wir regelmäßig von gezielten Tötungen von Jesid*innen im Nordirak durch Islamisten sowie den türkischen Geheimdienst. Şengal, die Herkunftsregion der Jesid*innen, ist ein strategisch wichtiges Grenzgebiet, in dem die Interessen von Akteuren wie der irakischen Regierung, dem Iran und der Türkei aufeinanderprallen. Das gesellschaftliche Miteinander und das Vertrauen leiden stark unter dem Trauma des Völkermords und der Ungewissheit, wer weiterhin zum Täterkreis gehören könnte und wer nicht. Des Weiteren ist die Ideologie der Terrormiliz nach wie vor präsent und bedroht jesidisches Leben immens.


Tausende Jesid*innen in Deutschland haben derzeit Angst vor der Rückkehr in die Perspektivlosigkeit. Die Angst, in ihre unsichere Herkunftsregion zurückgeschickt zu werden, erhöht bei vielen traumatisierten Völkermordsüberlebenden zudem das Suizidrisiko. Das Recht auf Schutz und Sicherheit vor Terror und Krieg ist ein grundlegendes Menschenrecht, das allen Menschen zusteht. Auch angesichts des aktuellen Anstiegs islamistischer Gewalt ist es inakzeptabel und eine tödliche Bedrohung, Jesid*innen in den Irak abzuschieben und damit auch dem Druck von Rechts in Deutschland nachzugeben.
Die Praxis der Abschiebung widerspricht der Anerkennung des Völkermords durch den deutschen Bundestag eindeutig. Es ist an der Zeit, dass den Versprechen von damals Taten folgen. Die Bundesrepublik Deutschland sollte ein sicherer Zufluchtsort für Jesid*innen sein. Die Abschiebung von Menschen, die in unserer Gesellschaft Schutz und Anerkennung suchen, entspricht nicht unserer gesellschaftlichen und humanitären Verantwortung, Völkermord und seinen vielschichtigen Folgen wirksam zu begegnen und schutzbedürftigen Menschen Zukunftsperspektiven zu ermöglichen. Menschen, die als Opfer eines Völkermordes anerkannt wurden, dürfen nicht in das Land des Völkermordes abgeschoben werden!


Aus einer humanitären Sicht auf die Ereignisse ergeben sich unsere Erwartungen, die wir wie folgt an die Verantwortlichen richten:Aufrichtig und besorgt bitten wir Sie, sich aktiv dafür einzusetzten, dass diese akute Angelegenheit geprüft wird und insbesondere der Schutz von Menschenleben in den Mittelpunkt künftiger Entscheidungen gestellt wird.Konkret bitten wir Sie, sich aktiv für einen sofortigen und bundesweiten Abschiebestopp für Jesind*innen einzusetzen.

Mit freundlichen GrüßenInitiative für Frieden und Hoffnung in Kurdistan e.V.